- Wolfsjungen: Kinder aus der Wildnis
- Wolfsjungen: Kinder aus der WildnisDie Frage, was vom Menschen ohne die Zivilisation bleibt, ist immer wieder von großem Interesse gewesen. Dies hat sogar so weit geführt, dass Kinder ausgesetzt wurden, um zu beobachten, wie und ob sich deren Sprachfähigkeiten in der Isolation entwickeln. Über diese gezielt herbeigeführten Fälle hinaus sind in der Zeit vom 14. bis zum 19. Jahrhundert über 50 Fälle von Kindern dokumentiert, die jahrelang auf sich allein gestellt und ohne menschliche Kontakte im Wald gelebt hatten. Von vielen wird berichtet, sie hätten zusammen mit Tieren gelebt. Alle diese Kinder zeigen einige Gemeinsamkeiten, wie die Unfähigkeit zu sprechen und aufrecht zu gehen. Berühmte Beispiele für Wolfskinder sind Kaspar Hauser, der 1828 in Nürnberg auftauchte, und Viktor von Aveyron, den man Ende des 18. Jahrhunderts in Südfrankreich entdeckte. Im letzteren Falle unternahm der Arzt Jean Itard einen mehrjährigen, genau dokumentierten Erziehungsversuch, der jedoch weitgehend scheiterte.Die Sage von Romulus und RemusDie Sage von der Gründung Roms erzählt von Rea Silvia, der Tochter des Königs Numitor von Alba Longa, die zwei Söhne geboren hatte, Romulus und Remus. Jedoch hatte der Bruder ihres Vaters, Amulius, zuvor die Macht über Alba Longa an sich gerissen und konnte deshalb die Zwillinge als rechtmäßige Thronfolger nicht dulden. Er ließ Rea Silvia ins Gefängnis werfen und Romulus und Remus auf dem Tiber aussetzen. Zu der Zeit, als die Diener die Kinder in den Fluss bringen wollten, war der Tiber gerade über die Ufer getreten, und so setzten sie die Wanne mit den Zwillingen ins seichte Uferwasser. Als jedoch das Hochwasser bald darauf zurückging, blieb die Wanne auf dem Ufer stehen, kippte um und die Kinder blieben im Schlamm liegen. Durch das Geschrei angelockt, kam eine Wölfin herbei, nahm sich der Kinder an und trug sie in ihre Höhle. Sie leckte die Jungen sauber und säugte sie und rettete sie dadurch vor dem sicheren Tod. Einige Zeit später fanden Hirten die beiden Jungen und nahmen sie mit. Die Frau des königlichen Schweinehirten Faustulus zog von da an die Kinder auf. Als die Jungen herangewachsen waren, befreiten sie das Land von dem unrechtmäßigen Herrscher und durften als Belohnung eine Stadt gründen - das war der Anfang der Stadt Rom.Kinder fernab der ZivilisationWährend die Geschichte von Romulus und Remus eine Sage ist, gibt es in der Neuzeit etliche mehr oder weniger gut belegte Fälle von Kindern, die über eine längere Zeit von jeglicher Zivilisation, somit auch von sämtlichen menschlichen Kontakten getrennt waren und in dieser Phase meist aus eigener Kraft ihr Überleben sicherten. In vielen dieser Fälle wird berichtet, die Kinder hätten unter der Obhut von Tieren gestanden, beispielsweise Wölfen oder Bären, und hätten von diesen Versorgung und Pflege erhalten. Die genauen Umstände des Lebens in der Wildnis blieben jedoch oft im Dunkeln, da die Kinder, nachdem sie »gefunden« worden waren, wenn überhaupt, dann nur unzureichend in der Lage waren zu sprechen. Aussagen über die Zeit in der Wildnis beruhen daher oft nur auf Vermutungen.Grausame ExperimenteDer griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet, dass der ägyptische Pharao Psammetichus im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit herausfinden wollte, welches das älteste Volk sei. Zu diesem Zweck wollte er feststellen, welche Sprache der Mensch von Natur aus spreche. Dies müsse dann die Sprache des ältesten Volkes sein. Es machte daher folgendes Experiment: Er nahm zwei Neugeborene von ihren Eltern weg und übergab sie einem Ziegenhirten. Diesem befahl er, die Kinder in einer Hütte unterzubringen und niemals ein Wort zu den Kindern zu sagen. Wenn die Kinder Hunger hätten, sollten sie von einer Ziege gesäugt werden. Der Hirte hatte den Auftrag genau zu beobachten, welches das erste Wort sei, das eines der Kinder sagt. Eines Tages, nach etwa zwei Jahren, sagte eines der Kinder »becos«, als der Hirte in die Hütte kam. Nachdem das Wort in der folgenden Zeit noch öfter zu hören war, forschte der Pharao nach und stellte fest, dass dies das phrygische Wort für Brot war. Das war in Psammetichus' Augen der Beweis, dass die Phrygier das älteste Volk seien und nicht die Ägypter, wie er selbst es gehofft hatte.Ein ähnliches Experiment hat nach der Chronik von Salimbene da Parma Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen durchgeführt. Er übergab Kinder einer Amme, welche die Kinder ernähren und waschen sollte, ihnen aber sonst keinerlei Zuwendung geben sollte und vor allem in Anwesenheit der Kinder niemals ein Wort sprechen sollte. Friedrich wollte herausfinden, ob die Kinder von sich aus die älteste Sprache der Menschheit, also eine Ursprache, oder aber die Sprache ihrer Eltern sprechen. Die Antwort auf diese Frage bekam er nie, denn die Kinder konnten nicht überleben ohne Zärtlichkeiten und liebevolle Zuwendung.Beispiele isolierter KinderZum Glück sind solche unmenschlichen Experimente Einzelfälle geblieben. Dennoch ist es immer wieder vorgekommen, dass Kinder einige Zeit abseits der Zivilisation verbrachten, sei es, dass sie sich verliefen oder dass sie bewusst ausgesetzt wurden, weil die Eltern ihrer überdrüssig waren.Einer der ältesten belegten Fälle war der Wetterauer Wolfsjunge, der im Jahre 1344 etwa zwölfjährig gefunden wurde. Im selben Jahr wurde in Hessen ein weiterer Junge gefunden, etwa sieben Jahre alt, der auf allen vieren lief. Ein Historiker berichtet, der Junge sei im Alter von drei Jahren von Wölfen verschleppt worden. Angeblich hatten die Wölfe ihn mit großer Zuneigung versorgt. Sie überließen ihm die besten Stücke der Beute, und sie hatten eine Mulde gegraben und mit Blättern ausgelegt, die ihm nachts Schutz bot. Die Wölfe legten sich im Kreis um ihn, um ihn im Schlaf zu wärmen.Es wird von mehreren Kindern berichtet, die in der Folgezeit in Litauen gefunden wurden. So trafen Jäger 1661 ein etwa zwölfjähriges Kind an, das unter Bären lebte. Dieses litauische Bärenkind wehrte sich mit Fingernägeln und Zähnen gegen die Menschen, die es einfangen wollten. Zwei weitere solcher Bärenkinder wurden Ende desselben Jahrhunderts ebenfalls in Litauen aufgegriffen.Der erste dokumentierte Fall, dass ein Mädchen gefunden wurde, stammt aus Holland im Jahre 1717. Dieses Mädchen von Kranenburg hatte bis zum Alter von 16 Monaten bei ihren Eltern gelebt und war neunzehnjährig wieder gefunden worden, ohne dass jemand erfahren hätte, wo sie die Zeit verbracht hatte. Sie konnte nicht sprechen und ernährte sich von Kräutern. Sie verstand es zwar nach einiger Zeit, sich mit Gesten verständlich zu machen, doch lernte sie niemals sprechen.Einige Jahre später, 1724, wurde bei Hameln ein etwa dreizehnjähriger Junge gefunden, der Jahre zuvor von seinen Eltern im Wald ausgesetzt worden war. Der Körper des Jungen zeigte viele Narben. Als man ihm Brot anbot, verweigerte er es und aß stattdessen lieber wilde Früchte und die Rinde junger Bäume. Im Gegensatz zu den meisten anderen der aufgefundenen Kinder konnte der Wilde Peter von Hameln sich aufrecht halten und auf zwei Beinen gehen. Seine anfängliche Aggressivität ließ mit der Zeit deutlich nach. Er lernte einige Wörter zu sprechen, um nach Nahrung zu verlangen, mehr jedoch nicht. Der hannoversche König George I., in Personalunion auch König von Großbritannien, ließ ihn 1726 nach England bringen und versuchte, ihn erziehen zu lassen. Peter gewöhnte sich zwar mit der Zeit daran, unter Menschen zu leben, akzeptierte nach einiger Zeit auch Kleidung, lernte jedoch niemals sprechen. Von dem Zeitpunkt an, als er aufgefunden wurde, lebte er noch achtundsechzig Jahre, während der jedoch seine Verhaltensweisen und seine Fähigkeiten keinerlei Änderung mehr erfuhren.Im Jahr 1920 fand der in Indien lebende Missionar J. A. L. Singh in einer Höhle zwei Mädchen, etwa acht und anderthalb Jahre alt, und brachte sie in ein Waisenhaus. Diese Wolfskinder von Midnapore wurden Kamala und Amala genannt. Beide Kinder waren ängstlich und versuchten immer wieder zu fliehen. Ihr Verhalten war auffällig: Sie gingen auf allen vieren, nachts streiften sie gern und ohne Furcht umher und bewegten sich auch auf unebenem Gelände sicher, einen toten Vogel, den sie unterwegs fanden, aßen sie gierig. Ihr äußerst feiner Geruchssinn zeigte sich darin, dass sie die Anwesenheit von Menschen oder Tieren sowie Nahrung auch bei großer Entfernung riechen konnten, das geringste Geräusch ließ sie aus dem Schlaf schrecken. Große Hitze oder Kälte schien ihnen wenig auszumachen. Bot man ihnen auf Tellern etwas zu essen an, so nahmen sie die Nahrung wie Tiere mit dem Mund auf. Während das jüngere Mädchen schon nach einem Jahr starb, lebte das ältere noch einige Jahre bei J. A. L. Singh und seiner Frau. Es lernte mit der Zeit die Sprache zu verstehen, erwarb selbst aber nur einen sehr geringen Wortschatz. Nach einiger Zeit konnte sie auf zwei Beinen stehen und mit Mühe auch gehen, lief in Eile jedoch nach wie vor auf allen vieren. Als sie 1928 16-jährig starb, hatte sie den Entwicklungsstand eines drei- bis vierjährigen Kindes erreicht.Insgesamt sind zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert rund 50 Fälle von »wilden Kindern« dokumentiert.Der in Deutschland bekannteste Fall von einem Wolfskind ist der Fall von Kaspar Hauser. Dieser junge Mann tauchte 1828 schwankend und mit zerrissenen Kleidern am Leib in Nürnberg auf, und seine Erscheinung versetzte die Bewohner zunächst in Angst und Schrecken. Er trug einige Dinge in der Jackentasche, darunter einen Zettel, auf dem es hieß, er sei 1812 geboren und hieße Kaspar. Abgesehen von paar unverständlichen Worten in einem fremden Dialekt war Kaspar nicht in der Lage zu sprechen. Fleisch lehnte er ab, er ernährte sich bevorzugt von Brot und Wasser. Sein Gang war torkelnd und unsicher, er stürzte häufig.Kaspar wurde kurz nach seinem Auftauchen im Haus des Philosophen und Dichters Georg Friedrich Daumer aufgenommen, der ihn unterstützte und förderte. Lange Zeit versetzte ihn alles Neue in Angst und Schrecken. Dennoch machte Kaspar hier große Fortschritte und entwickelte soziale und intellektuelle Fähigkeiten. Sein Gang wurde allmählich sicherer, er lernte sogar das Treppensteigen. Er gewöhnte sich an bestimmte Regeln des Zusammenlebens. Große Fortschritte machte er beim Sprechen. Zunächst gebrauchte er nur Infinitive und sprach von sich selbst in der dritten Person, doch nach etwa drei Jahren konnte er auch diese Probleme bewältigen. Kaspar erhielt Unterricht, man versuchte sogar, ihm auf dem Gymnasium Latein beizubringen, doch hatte er nicht allzu viel Freude am Lernen. Später nahm sich besonders der Jurist Anselm von Feuerbach seiner an, der ihn nach zwei nie geklärten Attentatsversuchen in die Obhut des Volksschullehrers J. G. Meyer in Ansbach gab. Kaspar arbeitete als Aktenkopist am dortigen Appellationsgericht. Am 17. Dezember 1833 wurde Kaspar von einem Unbekannten in Ansbach erstochen.Kaspars Herkunft bleibt weitgehend im Dunkeln. Über die Zeit vor seinem Auftauchen in Nürnberg hatte er nur sehr unklare Vorstellungen, die zunehmend verblassten. Nur so viel scheint sicher: Soweit er zurückdenken konnte, hatte er sich in einem sehr einfachen Raum befunden. Von Zeit zu Zeit erhielt er Brot und Wasser, ohne dass er dabei einen Menschen zu Gesicht bekam oder ein Wort hörte. Gelegentlich bemerkte er, wenn er aufwachte, dass seine Haare und Nägel geschnitten waren. Die näheren Umstande dieser Zeit abseits der Zivilisation blieben im Dunkeln. Schließlich tauchten Vermutungen auf, Kaspar sei der Sohn des Großherzogs Karl von Baden, den man ausgesetzt hatte, um ihn als Thronfolger auszuschalten. Nicht zuletzt durch diesen Mythos wurde er zu einer Person der Zeitgeschichte, an deren Schicksal die Gesellschaft regen Anteil nahm. 1996 wurde eine DNS-Analyse durchgeführt, von der man sich Hinweise auf die Herkunft Kaspars erhoffte. Diese Analyse beruhte auf dem Blutfleck in einer Unterhose, die angeblich Kaspar Hauser gehört haben soll und vor einiger Zeit aufgefunden worden ist. Die Analyse erbrachte keine Hinweise auf eine Zugehörigkeit zum badischen Herrscherhaus.Viktor von AveyronAm besten untersucht und dokumentiert wurde die Geschichte des so genannten Wilden von Aveyron, der Ende des 18. Jahrhunderts in Südfrankreich auftauchte. Einer breiten Öffentlichkeit wurde dieser Fall in den 1970er-Jahren bekannt, als der französische Filmregisseur François Truffaut die Geschichte aufgriff und den Spielfilm »L'enfant sauvage« (deutsch unter dem Titel »Der Wolfsjunge«) drehte.Bereits 1797 wurde im Wald von Lacaune im Departement Tarn mehrmals ein vollkommen nacktes Kind gesehen, das sofort weglief, wenn man sich ihm näherte. Zweimal wurde der Junge eingefangen, beide Male gelang es ihm wieder zu fliehen, bis er im Januar des Jahres 1800 in einem nahe dem Wald gelegenen Garten entdeckt und endgültig gefangen wurde. Weitere Fluchtversuche wurden erfolgreich verhindert, und das Kind wurde zum Objekt intensiver Beobachtungen und mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten.Der Junge - man nannte ihn inzwischen Viktor - war nicht in der Lage zu sprechen. Er schlief von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und er liebte das Feuer. Als man ihm einen Spiegel vorhielt, erkannte er sein Spiegelbild nicht, sondern griff nach dem Spiegel und dahinter, in der Vermutung, dort befinde sich eine weitere Person.Im Spätsommer 1800 wurde Viktor nach Paris gebracht. Der damals berühmte Psychiater Pinel fertigte ein Gutachten über ihn an und diagnostizierte Idiotie. Auch Jean Marie Gaspard Itard, der Chefarzt einer Pariser Anstalt für Taubstumme, begutachtete Viktor. Zwar kam Itard ebenfalls zu dem Schluss, hier einen Fall von Idiotie vorliegen zu haben, doch während Pinel hier eine angeborene Störung sah, war Itard der Ansicht, die Idiotie sei im Falle von Viktor erst durch die Einsamkeit und das Fehlen eines sozialen und kulturellen Umfelds entstanden - und damit sei sein Zustand auch veränderbar. Itard beschloss, sich des Jungen anzunehmen, um ihn zu erziehen und damit seine These zu beweisen.Ein gescheiterter VersuchVon da an lebte Viktor in der Taubstummenanstalt, und Itard wendete viel Zeit für seine Erziehung auf. Viktor empfand offenbar keine Schmerzen, da er glühende Holzscheite mit der bloßen Hand anfasste. Gegenüber üblem Gestank zeigt er keinerlei Regung. Er ernährte sich vegetarisch von Wurzeln und Früchten wie Kastanien oder Eicheln. Er roch an allem, was ihm in die Hände fiel.Nach einem Jahr bei Dr. Itard war Viktor in der Lage, sich anzuziehen und einfache Aufgaben zu erledigen, wie den Tisch zu decken oder Wasser zu holen. Er hatte gelernt, einige Buchstaben auszusprechen. Itard fertigte Lottospiele mit Bildern und Buchstaben an, um das Sprechen und Lesen weiter zu fördern. In der Folgezeit machte Viktor noch einige Fortschritte, doch konnte er nach fünf Jahren noch immer nicht richtig sprechen, und auch in seinem sonstigen Verhalten war keine Veränderung mehr zu beobachten. Schließlich musste Itard erkennen, dass er sein Ziel, den »Wilden von Aveyron« zu zähmen und zu sozialisieren, nicht erreicht hatte und dass weitere Fortschritte auch nicht mehr zu erwarten waren. Dennoch sah Itard insgesamt gewisse Erfolge. So konnte er bei Viktor eine gesteigerte und verfeinerte Wahrnehmung durch seine Sinnesorgane verbuchen, und er konnte in Viktors Verhalten Zeichen von gutem Willen, Gewissenhaftigkeit und Reue erkennen.Viktor wurde in der Folgezeit von einer Angestellten der Taubstummenanstalt betreut und starb 1828 im Alter von etwa 40 Jahren.Die menschliche NaturSo verschieden die dokumentierten Fälle auch sein mögen, so sind doch einige Merkmale im Verhalten der Kinder immer wieder beobachtet worden. So liefen viele der Kinder auf Händen und Füßen; die wenigen, die sich aufrecht fortbewegten, liefen sehr unsicher auf zwei Beinen. Häufig scheuten die Kinder das Tageslicht, fanden sich aber äußerst gut in der Dunkelheit zurecht. Die meisten verfügten über ein sehr feines Gehör und einen ausgeprägten Geruchssinn. Wie man es häufig bei Tieren beobachtet, schnupperten sie an allem, was ihnen begegnete. Gegenüber extremer Hitze oder Kälte zeigten sich die meisten Kinder überraschend unempfindlich.Die Fälle von Wolfskindern oder wilden Kindern sind immer wieder auf großes Interesse gestoßen, da sie viele Fragen über die menschliche Natur aufwerfen. So versprach man sich durch eine Analyse dieser Fälle eine Antwort auf die Frage, welche Eigenschaften und Fähigkeiten der Mensch von Natur aus in sich trage und was er durch die Erziehung und durch seine Umgebung erst erlerne.Alle Fälle von Wolfskindern beweisen, dass es einem Menschen möglich ist, die zum Überleben notwendigen Fähigkeiten, beispielsweise die Suche nach Nahrung, aus sich heraus zu entwickeln. Um jedoch das Gefühlsleben sowie intellektuelle Fähigkeiten zu entwickeln, sind soziale Kontakte erforderlich. Ohne die Gemeinschaft mit anderen Menschen, ohne deren Liebe und Zuwendung können sich keine »menschlichen« Empfindungen entwickeln.Die Gründe, warum die Erziehung im Falle von Viktor nicht erfolgreich war, mögen vielfältig sein. Ein Grund ist jedoch mit Sicherheit das Alter des Jungen. Für jede Fähigkeit gibt es ein bestimmtes Alter, in dem diese am besten gelernt werden kann. Es ist unendlich viel schwieriger, dieselbe Fähigkeit zehn oder fünfzehn Jahre später zu lernen. Hinzu kommt, dass die Kinder in ihrer Isolation im Wald sich viele Gewohnheiten angeeignet haben, die sie zunächst einmal wieder »verlernen« müssen, bevor an ihre Stelle andere Gewohnheiten treten können. Andere Autoren führen das Scheitern des Erziehungsversuches vor allem auf die Methodik der damaligen Erziehung zurück, die dem Kind nach festgefügten starren Normen und Prinzipien ein rigoroses Lernprogramm überstülpte und dieses mit Strafen durchzusetzen versuchte. Es bleibt offen, ob der »Wilde von Aveyron« heute bessere Chancen hätte.Joseph A. L. Singh: Die Wolfskinder von Midnapore. Tagebuch des Missionars (a. d. Engl., Heidelberg 1964)Jean M. Itard: Victor, das Wildkind vom Aveyron (a. d. Frz., Zürich 1965);Harlan Lane: Das wilde Kind von Aveyron. Der Fall des Wolfsjungen (a. d. Engl., Frankfurt am Main 1985);Georg Friedrich Daumer und Anselm von Feuerbach: Kaspar Hauser. Mit einem Bericht von Johannes Meyer und einem Essay von Jeffrey M. Masson (Neudruck Frankfurt am Main 1995);Erich Renner: Von »wilden« Kindern. Studien zur Grundlegung pädagogischen Denkens (Weinheim 1997);Lucien Malson u. a.: Die wilden Kinder (a. d. Frz., Neuausgabe Frankfurt am Main 1999);Kálmán Kovács: Kaspar-Hauser-Geschichten. Stationen der Rezeption (Frankfurt am Main 2000).
Universal-Lexikon. 2012.